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Andreas Steinhöfel:
Die Mitte der Welt.

Carlsen, 2004.
ISBN: 3-551-35315-8
477 Seiten, EUR 8,90 (ab 13 J.)

Phil ist 17 und was er in seinen 17 Lebensjahren erlebt hat, dürfte vollkommen anders sein als das normale Leben Altersgleicher. Familienidylle hat er nie kennen gelernt. Seine Mutter Glass ist vordergründig chaotisch, zieht aber mit enormem inneren Kompass ihre Lebensbahn. Häufiger wechselnde Männer entbinden sie durchaus nicht von ihren Aufgaben als Erzieherin, doch sie fällt nicht einmal in diesen 17 Jahren in eine übliche Mutterrolle. Neben Phil und Glass lebt auf Visible, dem Riesenhaus am Rand des Verfalls, noch Dianne, Phils Zwillingsschwester, die ebenfalls so ihre massiven Macken hat. Visible ist ein offenes Haus, die unterschiedlichsten Leute gehen dort ein und aus und so sind auch die Beziehungen, die zwischen den Besuchern und den Bewohnern gepflegt werden, ungewöhnlich und ganz unterschiedlich. Das alles wäre ja schon mehr als genug, gäbe es da nicht Nicholas, in dem sich Phil unsterblich verliebt hat. "Die Menschen hier", sagte Glass mit einer den gesamten Marktplatz umfassenden Geste, "kleben seit Hunderten von Jahren aufeinander und halten das für völlig normal. Aber dieselben Menschen werden dich dafür hassen, dass du dich früher oder später in einen Jungen verlieben wirst." Ich war immer noch wütend auf sie. Aber ich wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Visible war ein magischer Ort und Glass war eine außergewöhnliche Mutter, gemeinsam schufen sie eigene Gesetze, die hier draußen unter den Kleinen Leuten, keine Geltung hatten ... Genau das trifft die Stimmung. Visible ist ein magischer Ort und dennoch schützt alle Magie nicht davor, dass gravierende Probleme auftreten, die bewältigt werden müssen.
Steinhöfel ist mit diesem Buch ein unglaublich dichter und eindringlicher Roman gelungen, der nicht nur eine ungewöhnliche Familie aufzeigt, sondern ganz sensibel mit dem Thema Homosexualität umgeht und die Gefühle von Phil nachzeichnet. Da die Geschichte aus Phils Sicht geschrieben ist, steckt der Leser mittendrin im Gefühlschaos, aber auch in allen Ängsten, denen sich Phil in Bezug auf Dianne und Glass stellen muss. Paleiko, ein schwarzes Negerpüppchen, das Phil geschenkt bekommen hat, hat im Buch eine wichtige Funktion. Es ist eine Art Frühwarnsystem und begleitet Phil in allen Fragen.
Was ist nun die berühmte Mitte der Welt? Steinhöfel gibt mehrere Antworten - zum einen die Bibliothek in Visible, Phils Ort, "an dem Geschichten beginnen und enden". Zum anderen die Familie, die für Phil wie für alle Menschen eine zentrale Rolle spielt. Und der Titel weist auf den Tempel von Delphi hin mit seiner Inschrift: Erkenne dich selbst.


© Christine Krokauer
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