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Karla Schneider:
Die Geschwister Apraksin.

Hanser, 2006.
ISBN: 3-446-20703-1
592 Seiten, EUR 19,90 (ab 12 J.)

Sie sind fünf Geschwister zwischen fünf und fünfzehn Jahren und sie werden alles tun, um zusammenbleiben zu können. Ohne Eltern und nach der Enteignung ihres Hauses gänzlich heimat- und mittellos, machen sie sich auf eine lange Reise ins Ungewisse. Nach der russischen Oktoberrevolution herrschen überall Willkür, Chaos und das Recht des Stärkeren. Es mangelt an Nahrungsmitteln, funktionierenden Zügen, Hygiene und Brennmaterial, statt dessen blüht der Schwarzmarkt und dubiose Bonzen decken sich mit Luxusgütern ein. Die Apraksin-Kinder sind schlau genug, sich nicht hereinlegen zu lassen, haben ein gutes Gespür dafür, wem sie sich anvertrauen können und schaffen es durch ihre Liebenswürdigkeit, ihre Findigkeit und ihre Aufmerksamkeit immer wieder, die Gunst von Menschen zu gewinnen, die ihnen helfen können, selbst die von einem Waggon demobilisierter Soldaten. Manchmal müssen sie all ihren Erfindungsreichtum einsetzen, etwa um an einer gemeinen Gepäckkontrolle auf dem Bahnsteig ungeschoren vorbeizukommen. Improvisation, Tricks und Ablenkungsmanöver, aber auch harte Arbeit, die sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringt, wie das Ziehen eines Schusterkarrens in eisiger Kälte machen nun ihr Leben aus. Dabei wird die Kleinste so krank, dass man ihnen im Krankenhaus mitteilt, sie sei gestorben. Die Älteste läuft mit einem Künstler davon, so dass die zwölfjährige Polly mit ihren beiden Brüdern Ossja und Fedja alleine dasteht. Zwei fortschrittliche Tanzlehrerinnen nehmen sie zu sich und bauen mit ihnen - nachdem sie eine furchtbare Seereise miteinander durchgestanden haben - auf der Krim eine private Schule auf. Doch der Bürgerkrieg beendet nach einem Jahr ihr friedliches Dasein und treibt sie nach Moskau, wo sich langsam eine ganz neue Zukunftsperspektive abzuzeichnen scheint und ein kleines Wunder geschieht.

Polly ist die Hauptfigur des Buches und als Vernünftigste und Disziplinierteste von allen das heimliche Familienoberhaupt. Gerade dadurch dass sie nicht an sich denkt, selbst wenn sie auf ihre Lieblingsbeschäftigung, das Lesen, verzichten muss, hat sie wenig Gelegenheit, ihre Schicksalsschläge zu betrauern, sei es dass die kleine Schwester erkrankt, ihre Liebe enttäuscht wird oder die Tochter der Vermieterin sie demütigt. Wenn es ums nackte Überleben geht, ist für Innerlichkeit wenig Platz. Karla Schneiders ausführliche Beschreibungen zaubern dem Leser filmreife Bilder in den Kopf, allein die Vielfalt der russischen Namen ist unglaublich. Historisch fundiert berichtet sie vom Ausverkauf einer Kultur, die buchstäblich verheizt wird, vom Kollabieren jeglicher Struktur und läßt eine politische Epoche vor unseren Augen erstehen, die kaum im Bewußtsein ist. Tempo- und abwechslungsreich geschrieben läßt uns dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite mit den Apraksin-Kindern mitbangen.


© Ulrike Schmoller
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