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Daan Remmert de Vries:
Die Nordwindhexe.

Dressler, 2006.
ISBN: 978-3-7915-1673-8
140 Seiten, EUR 12 (ab 12 J.)

Rifka, die Ich-Erzählerin, findet den großen grauen Vorhang wunderbar, der sie unsichtbar macht. So kann sie sich Moritz gegenüber, der auf der anderen Seite des Krankenzimmers liegt, so beschreiben, wie sie eigentlich ist oder wie sie gerne wäre: als Schneewittchen mit schönem Haar und glatter Haut. Ihre schlimme Hautkrankheit hat sie bislang (und am quälendsten in der Schule) zur Aussätzigen gemacht und ihr den Spitznamen "Fleckenweltmeisterin" eingebracht. Sie erlebt sich als Hexe und die Anderen als Feinde. Leider läßt sich ihre Haut mit keinem Medikament heilen, sie ist nicht so einfach zu reparieren wie die Uhren ihres Onkels Gol, bei dem sie lebt. Rifka merkt, dass sie dem Schmerz entfliehen kann, indem sie ihren Körper verläßt. So schwebt sie nächtelang über der Stadt und sieht ihren Leib unten liegen. Das Krankenhaus wird für sie zur Übergangsstation auf dem Weg in die Leichtigkeit des Himmels. Das Gehendürfen erlebt sie als Ziel des irdischen Lebens, über die Zeitlosigkeit danach möchte sie nicht allzu viel verraten.

Moritz' Geschichte beginnt - in der dritten Person - auf der anderen Seite des Buches. Er leidet unter seiner Ungeschicklichkeit, zunehmenden Wahrnehmungsstörungen und Kopfschmerzen. Er meint, er könne Sachen allein durch seine Gedankenkraft kaputt machen und fühlt sich auch schuldig am Zerbrechen der Ehe seiner Eltern. Seiner Mutter gegenüber, die mehr mit ihren Blumen spricht als mit ihm, empfindet er sich als Last. Ihr Versuch, ihm Hoffnung auf Besserung zu machen, ist für ihn unehrlich, da sie seinen Zustand nicht wirklich sieht. Mit Rifka zusammen denkt er sich Geschichten von der Nordwindhexe aus, die durch seinen Kuss als Prinz erlöst werden muss. Das Bild der Nordwindhexe, die häßlich und böse ist und ihre Opfer einfrieren will, steht für den physischen Tod mit all seinen dunklen Seiten. Moritz' Besserung tritt in der Nacht ein, in der Rifka stirbt. Von nun spürt er ihre Gegenwart als etwas Weißes, Leichtes, das ihn umgibt und ihn unterstützt.

So treffen sich Leben und Tod genau in der Mitte des Buches und der Leser bekommt die Begegnung der beiden Kinder zweimal aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu lesen. Die Dialoge sind zum Teil fast deckungsgleich, was zum Überlesen reizt, obwohl sie doch jedes Mal einen anderen Charakter bekommen.

Die Nahtodeserfahrungen Rifkas entsprechen den Berichten von Menschen, die die Schwelle zur geistigen Welt übertreten haben und zurückgekehrt sind, wie Moody und George G. Ritchie. Sie decken sich auch mit der Anthroposophie und lassen sich mit einem Voneinander-Lösen der Wesensglieder erklären. Ein Weiterleben nach dem Tod ist selbstverständlich, da selbst die Erzählperspektive Rifkas im Nachtodlichen, jenseits der Schwelle liegt. In diesem Sinne ist "Die Nordwindhexe" ein erstaunliches Buch, das geistige Realitäten vollkommen stimmig einbezieht.


© by Ulrike Schmoller
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